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Wie in den meisten Londoner Häusern gab es auch an Willems Haus weder Namensschilder noch Briefkästen. Der Postbote warf deshalb jeden Morgen seine Sendung einfach in den Hausflur, wo sich jeder Mieter das, was für ihn bestimmt war, heraussuchte. Willem bekam selten Post. Meistens nur Reklame oder Pressemitteilungen von irgendwelchen Verbänden und Institutionen, bei denen er immer noch als Journalist auf dem Verteiler stand. Dennoch schaute er jedes Mal, bevor er morgens das Haus verließ, aufmerksam den Wust von Umschlägen durch, der verstreut auf dem Boden lag, aus purer Neugier. In der Regel war ein großer Teil der Post an ehemalige Mieter adressiert, die vergessen hatten, wem auch immer, ihre neue Anschrift mitzuteilen, oder einfach nicht wollten, dass ihnen Rechnungen oder amtliche Schreiben nachgesendet wurden.

An diesem Morgen war ein Brief für ihn dabei. Wie von Willem seit längerem befürchtet, teilte ihm eine Genter Zeitung mit, sie würde ab sofort ihre Honorarüberweisungen an ihn einstellen. Darüber hinaus wurde er aufgefordert, sich mit der Geschäftsführung in Verbindung zu setzen. Er sollte einen Modus über die Rückzahlung der Honorare vereinbaren, die er ein Jahr lang ungerechtfertigt erhalten hatte. Die angegebene Summe, an deren Richtigkeit Willem nicht zweifelte, überstieg deutlich seine Rücklagen. Er zerriss mit einem Fluch auf den Lippen Brief und Umschlag und beschloss, sich nicht mit Gent in Verbindung zu setzen. Er würde einfach den Lauf der Dinge abwarten.

Ein weiterer Brief weckte ebenfalls seine Aufmerksamkeit. Er war an einen Robin Clarke adressiert, einen freundlichen, kahlköpfigen Engländer, der bis vor etwa acht Monaten im Haus gewohnt hatte. Robin war der einzige Mieter, den Willem etwas näher kennen gelernt hatte. Sie hatten sich gelegentlich auf ein Bier in einem nahe gelegenen Pub den Kopf, die Zahlungsaufforderung der Genter Zeitung und seine große Geldnot im Allgemeinen, Hewitt, die Entführung und das Gespräch mit Pia.

Es ärgerte ihn, dass sie ihren Freund hineinziehen wollte. Und vor allem ärgerte ihn, dass sie ihn ausgelacht hatte, als er ihr seine Absicht offenbarte. Doch er konnte keinen klaren Gedanken fassen, wollte es auch gar nicht. Er wollte die Dinge nicht an sich herankommen lassen. Alles Unangenehme sollte einfach aus seinem Leben verschwinden, wie im Hyde Park der Verkehrslärm verschwand.

Die Sonne drohte kaum sichtbar, heizte den dichten Schleier aus Schmutz und Wolken mächtig auf. Willem folgte dem Pfad am Seeufer entlang, der ihn zu einem Café in einem schmucklosen Flachbau führte. Er nahm sich ein Sandwich aus der Glasvitrine, bediente sich am Kaffeeautomaten und schob sein Plastiktablett zur Kasse. Die Tische draußen waren über und über mit Vogelmist bedeckt. Also blieb er drinnen. Lustlos setzte er sich irgendwohin und schaute durch die verschmutzten Scheiben in den Park. Alte Leute und junge Japanerinnen nahmen ebenfalls einsam ihr Lunch ein.

Vor ein paar Monaten hatte Willem sich in diesem Café aus einer Laune heraus zu einer kleinen Japanerin gesetzt und, da sie kaum Englisch sprach, eine recht einseitige Unterhaltung begonnen. Anschließend waren sie gemeinsam fast ohne ein Wort durch den Park gelaufen, dann mit der U-Bahn zu ihm gefahren. Sie schliefen am selben Nachmittag miteinander. An den folgenden Nachmittagen besuchte sie ihn wieder. Sie blieb nie über Nacht, weil ihre Eltern das Hotel bezahlt hätten, wie sie zur Erklärung sagte. Nach einer Woche träger Liebe flog die kleine Japanerin um die halbe Welt in ihr Land zurück, schickte ihm einen kurzen, fehlerhaften, nichts sagenden Brief, den er nicht beantwortete. Die Begegnung behielt Willem als einen der wenigen glücklichen Momente seines Lebens in Erinnerung. Aber auf eine Wiederholung legte Willem es nicht an. Selbst eine taubstumme Japanerin hätte ihn im Augenblick überfordert.

Plötzlich hielt er diese bedrückende Stille in dem Café nicht mehr aus. Er ertrug es nicht länger, auf sich selbst zurückgeworfen zu sein. Er flüchtete hinaus, lief über den sanft ansteigenden Rasen nach Nordwesten, auf Marble Arch zu, durchquerte die nach Urin stinkende Fußgängerunterführung und tauchte am Ausgang zur Oxford Street wieder auf. Den Lärm und die Hektik dort, die er sonst verabscheute, empfand er als Befreiung.

Schwere Doppeldeckerbusse donnerten vorbei. Menschen hetzten getrieben durch die Straße. Die Anstrengungen des Großstadtlebens hatten in den Gesichtern ihre Spuren hinterlassen, einige gezeichnet. Gelbliche, müde, abgekämpfte Gesichter. Auch in der Oxford Street gab es hübsche Mädchen. Doch längst nicht so viele Schönheiten wie in der King’s Road. Sie sahen eher billig aus, entsprechend dem Warenangebot der Läden. Willem sinnierte über den Zusammenhang von Wohlstand und Schönheit, ohne Ergebnis.

Die Visa-Card Robin Clarkes fiel ihm wieder ein. Er fühlte sie in seiner Tasche. Sollte er es wagen? Wenn er die Karte benutzte, müsste es für etwas Außergewöhnliches, Einzigartiges sein. Nichts davon war in der Oxford Street zu bekommen. Was würde er sich gönnen? Er wollte sich seine Entscheidung reiflich überlegen.

Willem hatte schrecklichen Durst. Die Zunge klebte an seinem Gaumen. Er betrat das nächstbeste Pub, bestellte sich eine Flasche Corona und setzte sich nach draußen.

War sie es? Konnte sie es wirklich sein? Er glaubte, ein paar Tische weiter Catherine Deneuve sitzen zu sehen. Natürlich, sie war es. Kein Zweifel. Sie musste gekommen sein, als Willem an der Bar war. Sie sah genauso aus wie in ihren Filmen, wunderschön. Die Welt um sie herum müsste sich ihr aus Bewunderung widerstandslos ergeben. Er drehte sich um. War er der einzige, der Catherine Deneuve erkannte? Die Massen schoben sich achtlos weiter.

Sie wirkte angespannt, zog tief an einer Zigarette, deren Rauch ihre Lippen entließen, während sie zu ihrem Begleiter sprach. Offenbar waren beide nicht mit den Gepflogenheiten in englischen Pubs vertraut, wo man nicht am Tisch bedient wurde, sondern seine Getränke an der Bar abholen und gleich zahlen musste. Ihr Begleiter schaute sich suchend um, ging dann doch hinein und kehrte mit zwei Tassen Kaffee zurück. Willem hatte sich immer noch nicht beruhigt. Es war ganz sicher Catherine Deneuve. Aber sicher! Er hatte morgens in der Zeitung eine Notiz gelesen, dass sie als Ehrengast die Chelsea Flower Show eröffnen würde. Er hätte nie vermutet, sie in London ausgerechnet in der Oxford Street zu treffen. Irgendwo im vornehmen Knightsbridge, ja, aber nicht in der Oxford Street.

Er versuchte für sich die vielen Filme aufzuzählen, in denen er sie gesehen hatte. Unmöglich, sich an alle Titel zu erinnern. Er bemühte sich, möglichst diskret zu ihr hinüber zu schauen. Sie sah schön, aber unwirklich aus. Auch wenn Catherine Deneuve tatsächlich an dem Tisch dort saß, so schien es ihm doch, als sei sie nur vorübergehend aus einem Film getreten, in den sie bald zurückkehren würde.

Er trank sein Bier aus und ging weiter. Allmählich wurden die Geschäfte teurer und die Mädchen hübscher. Die Bond Street kündigte sich an.

Willem hatte immer noch keine Idee, was er sich auf Robins Kreditkarte leisten könnte. Hemd oder Jackett schienen ihm zu einfallslos, Schuhe ebenfalls nicht außergewöhnlich genug. Wenn, dann müssten es Maßschuhe sein. Die schönsten gab es bei »G. J. Cleverley & Co.«, einem entzückend altmodischen Geschäft in der Royal Arcade, nicht weit von hier.

Allein die Vorstellung, sein Leisten würde dort aufbewahrt, reizte ihn. Der Leisten sollte aber seinen Namen tragen, Willem de Breuk und nicht Robin Clarke. Es gab weitere Gründe, die gegen den Erwerb sprachen. Ein Paar würde sicherlich rund tausend Pfund kosten. Und er wusste nicht, bis zu welchem Betrag die Karte gedeckt war. Zudem könnte er wahrscheinlich die Schuhe erst in einigen Wochen abholen. Das war ihm zu umständlich, auch zu risikoreich.

Die Bond Street war vielleicht Londons eleganteste Einkaufsstraße. Er aber achtete mehr auf die todschick und sündhaft teuer gekleideten Frauen als auf die Auslagen. Denn die meisten Luxus-Geschäfte boten Juwelen oder Designermoden an, lauter Dinge, die Willem nicht wirklich interessierten. Er fühlte sich zum Shopping besser in der Jermyn Street aufgehoben, der exquisiten Herrenausstatter wegen, deren Sortiment mehr Willems klassisch-konservativem Geschmack entsprach.

Endlich hatte er eine Idee. Er ging bis zum Piccadilly, und dann, auf der anderen Seite, in die St. James’s Street. Die Nummer 54 war sein Ziel: »Swaine, Adeney, Brigg and Sons«. Er betrat den Laden, der in den Schaufenstern vor allem mit Reisegepäck lockte. Doch Willems Wunsch würde, wie er schon von weitem sah, im hinteren Teil des Lokals in Erfüllung gehen. Zu einer verführerischen Vielfalt aufgereiht, schienen sie nur darauf zu warten, von ihm herausgenommen, angefasst und ausgiebig geprüft zu werden: Schirme verschiedener Farbe, Größe und Hölzer. Einen Schirm, einen echten »Brigg«, wollte er zu Lasten von Robins Visa-Card erwerben. Das war sein sorgfältig überlegter Entschluss.

Wenn Willem sich für eine Kaufentscheidung Zeit nahm, dann nur, um auch den Dingen, die er nicht erstehen würde, Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Er legte sich stets früh fest, denn er war sich seines Geschmacks sicher. Nur der Form halber prüfte er deshalb auch andere Modelle, fühlte, wie sie in der Hand lagen, wie leicht ihr Mechanismus funktionierte und wie die Art ihrer Bespannung war. Dabei hatte er längst seine Wahl getroffen.

Er hatte sich für einen Schirm aus rötlichem Kirschholz entschieden, dessen Griff unbearbeitet wirkte, zwar geglättet, aber nicht lackiert wie die einen, aber auch nicht wüst und rustikal wie die anderen. Willem spielte fasziniert mit dem Öffnungsschieber aus glänzendem Messing, bewunderte das Gestänge aus geöltem Stahlrohr und die Feinheit des schwarzen Himmels aus dreifach gewebter Seide.

Doch die freudige Erregung, die Willem verspürte, nahm an der Kasse eine andere Färbung an. Angst verdrängte die Freude. Erst in diesem Augenblick wurde ihm wirklich bewusst, dass er im Begriff war, eine Straftat zu begehen, die erste seines Lebens. Noch wäre es Zeit, den Schirm wieder zurückzustellen. Oder ihn der Verkäuferin zu überlassen, etwa mit der Frage, ob es dieses Modell nicht auch mit einer Nylon-Bespannung gebe. Aber Willem wagte es.

Wie selbstverständlich zückte er die Karte und gab sie der Kassiererin. Die Karte verschwand in einem Lesegerät. Es vergingen einige qualvolle Sekunden, und die Karte wurde Willem mit einem Beleg für ihn und einem weiteren, den er zu unterzeichnen hatte, zurückgegeben. Er leistete wie selbstverständlich die geforderte Unterschrift, Robin Clarke. Er atmete tief durch. Erleichtert nahm er den Schirm, verpackt in dunkelrotem Papier, aus den Händen der Verkäuferin entgegen.

»Vielen Dank, Mister Clarke.«

»Ich danke Ihnen!«

Alles war glatt gelaufen.

Willem musste sich zusammenreißen, um nicht auf der Straße einen Freudenschrei auszustoßen. Eine Straftat zu begehen, war so einfach. Wäre doch Pia dabei gewesen, dachte er. Sein Coup hätte sie sicherlich amüsiert. Es war nur ein kleiner Kreditkartenschwindel, keine Kindesentführung. Aber ausgelacht hätte sie ihn ganz bestimmt nicht. Er würde es gleich noch einmal probieren. Willem schaute in die Schaufenster, war aber zu aufgeregt, um sich auf irgendetwas zu konzentrieren.

In der Piccadilly Arcade erweckte ein Laden mit antiken Uhren seine Aufmerksamkeit. Eine Patek Philippe vielleicht? Oder eine Rolex? Oder besser eine Jaeger LeCoultre? Er musterte oberflächlich die Gehäuse. Wenn, dann sollte es eine goldene, keine silberne sein. Zu weiteren Überlegungen war er nicht im Stande. Die Zifferblätter verschwammen vor seinen Augen. Er überquerte wieder den Piccadilly und trat in die Burlington Arcade. Bei Edward Green fielen ihm ein Paar mittelbraune Oxford-Schuhe auf, die, auf antik poliert, eine edle Patina vortäuschten. Nein. Schuhe hatte er bereits verworfen. Hinten links gab es einen Laden mit ausgewählten Schreibutensilien. Auf den steuerte Willem zu, als plötzlich, er wusste nicht, wie ihm geschah, zwei Männer ihn bedrängten.

»Guten Tag! Metropolitan Police!«

Willem spürte einen stechenden Schmerz in der Herzgegend. Der eine Mann nannte seinen Namen, während der andere seinen Oberarm fasste. Ein kleines schwarzes Etui klappte vor seiner Nase auf, darin ein Dienstausweis mit einem Foto, unter dem ein Name, eine Nummer und auch Metropolitan Police stand. Der Mann sagte wieder etwas. Willem hatte nichts verstanden.

»Was? Bitte…?«

Sein Kopf drohte zu platzen.

»Wir möchten nur wissen, was Sie hier machen«, wiederholte der Mann.

Der andere tastete seinen Wildlederblouson ab. Willem merkte es kaum. Wie von selbst hatte er wie ein ertappter Verbrecher seine Arme gehoben, den Schirm ausgestreckt in der rechten Hand.

»Nichts! Ich mache nichts, nur einkaufen, ich kaufe ein.«

Der Mann, der ihn durchsucht hatte, schaute seinen Kollegen an und schüttelte den Kopf. Er hatte nichts Verdächtiges in Willems Taschen gefunden.

»Was ist da drin?«, setzte der andere das Verhör fort.

»Nichts! Doch, ich meine, ein Schirm.«

Der stumme Beamte nahm ihm die längliche Tüte aus der Hand, öffnete sie kurz, nickte mit dem Kopf und gab ihm die Tüte zurück.

»Haben Sie einen Ausweis dabei?«

Willem holte aus seiner Hosentasche ein braunes Ledermäppchen, in dem neben seiner Scheckkarte und Robins Kreditkarte auch sein Presseausweis steckte, und händigte das Mäppchen dem Beamten aus.

»Entschuldigen Sie bitte, aber meinen Pass habe ich nicht dabei.«

Der Beamte schaute prüfend den Presseausweis an und warf auch einen kurzen Blick auf den sonstigen Inhalt. Wieder spürte Willem einen stechenden Schmerz im Herzen.

»Gut. Vielen Dank! Entschuldigen Sie vielmals. Es ist sonst nicht unsere Art, jemanden auf der Straße anzuhalten.«

Er atmete auf. Und mit jedem Atemzug gewann er ein Stück Selbstsicherheit zurück.

»Darf ich fragen, warum Sie mich angehalten haben?«

»Wir haben Hinweise erhalten, dass in dieser Gegend Taschendiebe unterwegs sind. Und Sie sind uns aufgefallen.«

Willem schaute den Polizisten verwundert an.

»Ja, wie soll ich es sagen? Sie haben sich sehr merkwürdig verhalten. Wir hatten Sie seit der Oxford Street verfolgt, aber im Piccadilly für eine ganze Weile verloren. In der Bond Street wechselten sie ständig die Straßenseite. Sie gingen mal vor, mal wieder zurück, und schienen die ganze Zeit Selbstgespräche zu führen. Dann starrten sie den Frauen hinterher. Und wie Sie vermuten können, haben die Frauen, die in der Bond Street einkaufen, in der Regel viel Geld bei sich. Eine leichte Beute für Taschendiebe. Und im Piccadilly rannten sie plötzlich los und waren weg.«

Willem wusste nicht, was er sagen sollte. Hatte er die Frauen angestarrt? War er wirklich im Zickzack gelaufen? Hatte er wirklich zu sich selbst gesprochen? Wenn es so war, war er sich dessen nicht bewusst gewesen.

»Na ja. Nichts für ungut. Wir müssen jetzt weiter. Einen schönen Tag noch.«

Zum ersten Mal sagte auch der stumme Beamte etwas: »Auf Wiedersehen.«

»Auf Wiedersehen«, sagte auch Willem.

Er schämte sich in Grund und Boden. Er hatte unbeschreibliches Glück gehabt, dass die Polizisten Robin Clarkes Visa-Card übersehen hatten. Aber weit mehr beschäftigte ihn der unausgesprochene Vorwurf, dass er sich wie ein Verrückter, ein Psychopath verhalten hatte. War er wirklich dabei, merkwürdig zu werden? Er nahm sich vor, sich selbst genauer zu beobachten. Und zu Hause würde er die Visa-Card zerstückeln. Ganz sicher! Nichts dürfte von ihr übrig bleiben. Willem konnte sich gerade noch rechtzeitig in die nächste U-Bahn-Station flüchten, als ein heftiger Regenschauer niederging. Den Schirm aufzuspannen, war ihm nicht in den Sinn gekommen.